Glasbuch    "Blättern im Selbst"
Sehnsucht nach Frieden

Gravuren auf Glas haben die faszinierende Eigenschaft, dass man ihrer ansichtig werden und gleichzeitig durch sie hindurch schauen kann. Mein ICH oder zumindest Teile davon kann ich also völlig durchsichtig in Form eines Glasbuches darstellen. Zunächst dachte ich an drei Seiten in einem Glasbuch, die man, wenn das Buch aufgeschlagen vor mir steht, einzeln anschauen kann, aber dank der Durchsichtigkeit des Materials ist es auch möglich, durch zwei oder drei oder alle Seiten gleichzeitig hindurch zu schauen, was sozusagen eine Überlagerung der Einzelaspekte ergibt.

Seinerzeit, Anfang Februar 2003, fand ich die Stimmung wegen des bevorstehenden Irak-Krieges immer unerträglicher, zum Reißen gespannt, und somit war mir klar, dass ich nur allzu deutlich hier Stellung beziehen wollte, eben auf meine Art.

Auf Seite 1 gravierte ich ein Motiv, das in einigen Variationen in meinen Arbeiten zu finden ist: ein Format füllendes Auge, in dessen Pupille eine kleine Friedenstaube zu sehen ist. Tränen fließen aus diesem Auge und bilden auf dem Boden eine große Pfütze oder auch einen See oder gar ein Meer. In zwei der nach unten größer werdenden Tränen sind die Worte FRIEDEN und FRIEDE AUF ERDEN graviert. Neu kam nun hinzu: In der Mitte des Sees, wo die Tränen hineintropfen, ist als aufsteigende - oder hineinfallende - deformierte Träne ein Bildzitat zu sehen: der Schrei von Edvard Munch. Nur der Kopf und die angelegten Hände sind zu sehen, und in dem vor Angst geöffneten Mund stehen die Worte KEIN BLUT FÜR ÖL.

Auf Seite 2 ist die allseits in dieser Welt vorzufindende schreckliche Mauer des Hasses zu finden, die bei den Mächtigen dieser Welt nur im Krieg enden kann: Ein Ausschnitt einer Mauer ist zu sehen, die aus einzelnen Steinen besteht, aus Textsteinen, und jeder einzelne Stein beinhaltet ein Zitat zum Thema Krieg, Hass und Feindschaft, quer durch die letzten Jahrhunderte. Den Abschluss der Mauer nach oben bildet Stacheldraht.

Seite 3 ist wieder eine Variation anderer von mir bereits gravierter Motive: Also der Blick durch diese Mauer: Eine kleine Friedenselfe sitzt zusammengekauert und weinend, mit zerfetzten Flügeln, die komplett aus den Worten FRIEDEN zusammengesetzt sind - aus unendlich vielen Friedensteilchen -, auf einer für sie riesigen Hand. Die Schrift auf den Flügeln kann man von weitem und auf den ersten Blick natürlich nicht erkennen, genau wie den Frieden auf dieser Welt, den müssen wir ebenfalls mit der Lupe suchen. Der Mensch, der diese Elfe behutsam hält, weint ebenfalls. Von ihm sieht man im oberen linken Bildausschnitt gerade das Kinn, den Mund, die Nase und herunter tropfende Tränen. Unterhalb der Hand vereinen sich die großen Tränen des Menschen und die kleinen der Elfe. Beim Zusammenprall öffnet sich die große Träne, und heraus fliegt eine Friedenstaube.

Während des Arbeitens an der zweiten und dritten Glasscheibe kam mir der Gedanke, dass das Buch nicht nur aus den symbolischen oder magischen 3, sondern aus 4 Seiten bestehen müsse, so wie ein Text Einleitung, Hauptteil, Höhepunkt und Schluss beinhalten muss.

Und kurz vor Fertigstellung zunächst des Entwurfs der vierten Seite überlegte ich, ob evtl die dritte und die vierte Seite nicht vertauscht werden müssten, aber da die vierte Seite zwar bedrohlicher ist als die dritte, so meine ich, empfinde ich die dritte noch hoffnungsloser, was zwar den Tatsachen eher entspricht, aber den massiven Wunsch nach Frieden in der gesamten Welt nicht so deutlich ausdrückt. Es sollte doch mehr Hoffnung da sein, um Energien frei zu setzen, damit nicht in der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung eine Starre eintritt.

Nun zur vierten Seite: Ein Händedruck, Symbol für Versöhnung ist zu sehen, dh er ist leider nicht zu sehen, da er nicht zustande kommt, denn ein Riss geht durch die beiden Hände, mitten durch den Händedruck. Und aus den beiden Händen "wächst" jeweils eine zweite Hand. Die beiden oberen Hände haben die Gestik des Dirigierens inne, wobei die linke statt des Taktstockes eine Rakete hält, und die rechte Hand besteht an der Stelle des kleinen Fingers aus einem tropfenden Benzinzapfhahn. Aus dem Riss des Händedrucks lugt ein weinendes Auge hervor, dessen Tränen nach unten fließen, unterhalb der Hände sich jedoch nicht mit dem See, der sich aus den Öltropfen bildet, vereinen können, da Wasser und Öl bekanntermaßen keine Verbindung eingehen können, zumindest nicht ohne Zusatz, und so prallen die Tränen an dem Ölsee ab, in dem ein Panzer steht, und sie fließen in ein eigenes Meer. Über dem Panzer fliegt eine kleine Friedenselfe - in den Flügeln das Wort FRIEDEN eingraviert - und hält einen Zauberstab über den Panzer. Aus den Funken des Stabs entspringen Friedenstauben. Dies spielt sich auf dem Bildrand rechts unten ab. Links oben, auf der "Taktstockhand" steht ebenfalls eine kleine Friedenselfe. Sie hält den Zauberstab nach oben und lässt aus den Funken Friedenstauben in alle Richtungen fliegen.
Aus dem Riss der beiden Hände steigen zwei kleine Elfen empor, sie befinden sich jedoch noch innerhalb des Risses, während zwei weitere Elfen bereits das Freie erklommen haben und versuchen, fliegenderweise die Dirigentenhände zu erreichen. Diese vier kleinen Kämpferinnen sind Glaube, Hoffnung, Wahrheit und Liebe, an ihren Flügelaufschriften zu erkennen.

Entstanden in der Zeit vom 8.2. bis 27.3.2003.
Der Entwurf der vierten und letzten Glasseite wurde in der Nacht zum 20. März fertiggestellt, genau 3 Stunden bevor die ersten US-Bomben auf Iraks Hauptstadt Bagdad fielen.

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